Eine kleine Ganovengschichte von 1970

Ohne Visum nach Brandau? Eine kleine Ganovengschichte von 1970

Kurze Erklärung zur Episode: Die Bahnstrecke Grünthal – Deutschneudorf existierte von 1927 bis 1969. Sie führte bei Brandau über böhmisches bzw. über tschechisches Staatsgebiet.

Einkehren in Brandau im Jahr 1970 mit bösen Folgen

Es passierte ein Jahr nach der Stilllegung der Eisenbahnstrecke Olbernhau-Deutschneudorf.

An einem Wochenende 1970 fuhren der technische Leiter und der Baumaschinist der Bahnmeisterei Pockau mit einem Schienenkraftwagen auf der stillgelegten Strecke von Grünthal zum Haltepunkt Brandau. Dort stand noch ein Wagenkasten eines alten Eisenbahnwagens der königlich sächsischen Staatseisenbahn. Er wurde bis dahin am Haltepunkt als Schuppen genutzt.

Die beiden Herren aus Pockau wollten den Wagenkasten nach Hause transportieren und dort privat als Motorradschuppen wieder aufstellen.

Den Kasten mit Zahnstangenwinden und Rutschschinen auf den Schienenkraftwagen zu bringen war eine körperlich sehr anstrengende Arbeit.

Mittlerweile waren die Männer hungrig geworden. Also beschlossen sie, den Wagen erst mal auf den Gleisen stehen zu lassen und in Brandau zünftig einzukehren. Ich vermute, der Weg führte sie in den „Hirschen“. Den tschechischen Wirt kannten sie. Waren sie doch schon mehrmals mit dem Pockauer Fußballverein zu Freundschaftsspielen bei den Brandauer Sportfreunden.

Während die beiden Pockauer sich die Speisen und das böhmische Bier schmecken ließen, beobachtete sie ein ebenfalls in der Gaststube sitzender zwielichtiger einheimischer Staatsbürger. Nach kurzem Verschwinden erschien er mit zwei tschechischen Grenzern. Diese verlangten von den Eisenbahnern Personalausweis und Visum.

Zu dieser Zeit durften sich DDR- Bürger in der CSSR nur mit gültigem Visum aufhalten. Erst später gab es Reiseerleichterungen und man durfte mit nur dem Personalausweis einreisen.

Weder ein Visum noch den Personalausweis konnten die beiden vorweisen.

Also hieß das Vergehen illegaler Grenzübertritt und illegaler Aufenthalt im Nachbarland.

Die beiden Grenzgänger wurden trotz Protesten in ein Kellergewölbe mit kleinen vergitterten Fensterchen gesperrt.

Einer der beiden Eingesperrten rüttelte mit seinen langen Armen an den Gitterstäben des kleinen Fensters und schrie: „Freiheit! Freiheit!“ Während dessen kamen tschechische Kinder mit Holzgewehren ans Fenster und riefen „Pfui! Pfui!“

Nach heftigen Protesten der beiden in Gewahrsam genommenen ließen sich die tschechoslowakischen Grenzbehörden auf Verhandlungen ein. Der zuständige Grenz-ABV wurde konsultiert. Er konnte die Identität der beiden Eisenbahner nachweisen.

Am folgenden Tag konnten die beiden „Grenzgänger“ unter der Aufsicht tschechoslowakischer Grenzer die Heimreise mit ihrem Schienenfahrzeug antreten.

Die beiden Männer hatten Glück, dass ihnen in der Heimat kein strafrechtliches Nachspiel drohte. Man konnte Ihnen nämlich nachweisen, dass sie mit Ihrer Sportgemeinschaft schon mehrmals legal mit Visum in Brandau weilten. Die hätten es also besser wissen müssen…

 

Das Gasthaus K Jelen (Zum Hirschen) ist vermutlich die beschriebene Einkehrstätte gewesen.